„Und sie bewegen sich doch!“ Egon Bahrs galileische Weitsicht


Es war in den Katakomben des Studentenwerks der Göttinger Universität, direkt
unter dem „Blauen Turm“. Anfang Oktober 1989 hatte der SPD-Unterbezirk zu einem
Gespräch mit Egon Bahr eingeladen. Keine große Versammlung, ein Kreis von etwa
25 Zuhörern, eine spontane Versammlung. Egon war, vielbeschäftigt und vielgefragt,
auf der Durchreise. Er schmauchte seine Pfeife und hatte die Tabaktasche vor sich
auf den Tisch gelegt. Ruhig und präzise beantwortete er unsere Fragen.
Die Genossen zeigten sich erfreut und zugleich beunruhigt über die Entwicklung in der damaligen DDR. Noch war überhaupt nicht sicher, was da eigentlich ablief und wie das SED-Regime sich gegenüber der aufkeimenden Bürgerbewegung verhalten würde.
Meine Frage nach einer angemessenen Reaktion bei uns im Westen stimmte ihn
erneut nachdenklich. Bei aller Sympathie für den Wunsch nach Freiheit und
Selbstbestimmung müsse man das Gewaltmonopol der dortigen Machthaber einkalkulieren.
Ein militärisches Eingreifen nach chinesischem Vorbild sei nicht auszuschließen.
Keinesfalls dürfe ein solches Vorgehen durch vermeintliche westliche Interventionen provoziert und damit aus SED-Sicht gar gerechtfertigt werden. Also keine voreiligen
Fanfarenstöße über das Ende des DDR-Kommunismus, sondern
verantwortungsbewusstes Abwarten.

Ich habe dann die Frage gestellt, was zu tun sei, wenn aus den Demonstrationen in Leipzig Massenveranstaltungen würden, unübersehbar und unüberhörbar auch jenseits der Grenze. Ehrlich gesagt weiß ich nicht mehr, welche Antwort wir erhielten, doch die Erinnerung an die allgemeine Sorge, die Ungewissheit über die nächsten Tage und Wochen und die leise Ahnung, dass sich ein historisches Ereignis ankündigte, ist noch wach.

Kein Zweifel aber besteht daran, dass in diesen Tagen mit dem Tode von Egon Bahr
derjenige von uns gegangen ist, der einen gehörigen Anteil daran hat, dass eine
solche Entwicklung überhaupt erst möglich wurde. Die Politik des „Wandels durch
Annäherung“ schuf durch den ausdrücklichen Gewaltverzicht und die erklärte Bereitschaft zum Erhalt des Friedens die Voraussetzungen für innere Reformprozesse im kommunistischen Osteuropa, zu denen sich die Machthaber unter historischem Druck immer mehr gezwungen sahen. Der Verzicht auf fortgesetzte ideologische Konfrontationen oder das Aussparen solcher „sprachlos“ machenden Themen führte zu einem den Menschen dienenden Pragmatismus, dessen historischer und humaner Erfolg außer Frage steht. Dazu gehört auch jener Blickwinkel Egon Bahrs, der in dem beschriebenen Gespräch zum Ausdruck kommt. In den Dialogen über die Mauer hin-weg konnten Lösungen menschlicher Probleme erst angegangen und Bereiche für flexible Regelungen erst gefunden werden, nachdem die Maximalforderungen ausgeklammert worden waren und zwar beidseitig. Das war der Kern der Ostpolitik, für deren Vollzug sich der Sozialdemokrat Egon Bahr beuteln lassen musste, von misstrauischen Kommunisten, von eingefleischten Konservativen und ewig Gestrigen.

Die Genugtuung dafür, dass er Recht behalten hat, ist ein kleiner Teil des Guthabens
auf seinem geschichtlichen Konto. Viel schwerer wiegt die Tatsache, dass er maß-geblich mit an den Weichenstellungen im Nachkriegseuropa gearbeitet hat, die die
Überwindung des Kalten Krieges und die Wende ermöglichten.

Uslar im August 2015 Dr. Hermann Weinreis